Rückblicke III

Kindheit

Weihnachten war so ein Tag an dem die ganze Familie zusammenkam. Das Mittagessen wurde noch zu Hause eingenommen dann ging es zur Marienbergstraße. Alle Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen die irgendwie konnten, waren auch da. Zunächst wurde die Krippe bewundert. Unter dem mit Engelhaar, silbernen Kugeln, oft mit Gips geweißten Ästen mit Kerzen und Lametta geschmückten Weihnachtsbaum stand die, aus einem in Gips getränktem und dadurch versteiften Sack bestehende Krippenlandschaft,in die kunstvoll ein Stall eingearbeitet war. Graue Farbe deutete den Felsenhintergrund an und im Vordergrund waren auf dem grüngestrichenem Grund kleine Büsche, Bäume und Sträucher aufgeklebt um die sonst triste Landschaft zu beleben. Liebevoll bemalte Gipsfigürchen stellten Maria, Josef und das Jesuskind dar. Im Hintergrund der Krippenhöhle konnte man Ochs und Esel erspähen, wie sie das Kind mit ihrem Atem wärmen. Mehr im Vordergrund war dann der Platz für die Hirten mit ihren teilweise schon arg mitgenommenen Schafen, die nicht so ganz zur übrigen Krippe passen wollten. Ganz in der Ferne konnte der aufmerksame Betrachter schon die drei Könige nahen sehen, aber auch da hatte eines der Kamele ein durch ein Streichholz ersetztes Bein und musste immer etwas versteckt stehen. Wir Kinder waren immer begeistert, zumal zu Hause nicht so viel Platz für eine Krippe war. Dann gab es Kuchen, selbst gebackene Böden mit Obst belegt, Marmorkuchen und als Krönung Buttercremetorte. Man musste in mehreren Schichten essen, da ja nicht alle an den großen doppelt ausgezogenen Esstisch passten, aber das hat uns nicht gestört. Nach dem Kaffee ging es zum gemütlichen Teil über. Die Männer rauchten, von einigen Ausnahmen abgesehen, Festtagszigarren, und Opa spendierte einen Cognac. Dann wurden die Rommekarten gemischt und jeder, auch die Kinder konnten mitspielen. Überhaupt wurde Kartenspielen groß geschrieben. Wenn nicht Romme, dann wurde Sechsundsechzig oder Tausendeins gespielt. Opa und Oma Weber spielten täglich bis ins hohe Alter ihre Runde nach dem Mittagessen. Es ging immer um Pfennige die täglich, je nach Fortunas Gunst, zwischen den Beiden hin und her gingen.
Wir Kinder konnten uns im ganzen Haus tummeln. Nichts war vor uns sicher. Ob im Garten oder Stall, im Keller oder auf dem Dachboden. Wir kamen überall hin und konnten mit allen Dingen spielen. Walburga HampfRudolf PelzerKarl-Heinz PelzerUrsula PelzerManfred SippelHerbert SippelAnnemarie Hampf Da gab es Werkzeuge und Gartengeräte, Dosen voller Schrauben und Nägel, alte Schuhe, Tüten mit Gips und viele Dinge deren Verwendungszweck noch unbekannt waren. Die tollsten Sachen fanden wir dann auf dem noch nicht ausgebautem Speicher. Da gab es in rotes Papier eingewickeltes Fotopapier in allen möglichen Sorten und Größen. Jede Menge Negative im Format 9 mal 12 cm auf Glasplatten und Folie, und, was für mich am tollsten war die dazugehörige Kamera. Filmmaterial gab es für diese alte Plattenkamera zwar nicht aber man konnte wunderbar damit spielen. Auf der Mattscheibe konnte man die ganze Welt verkleinert auf dem Kopf betrachten. Es gab viele Knöpfe und Räder, Federn und Scharniere, überhaupt eine Technik, die mich faszinierte. Onkel Paul, oder Onkel Rudi, der Besitzer dieser Kostbarkeiten war nicht aus Russland zurück gekommen und konnte uns das nicht verbieten, und die anderen waren sich wohl über den Wert der Dinge nicht im klaren. Das Fotopapier färbte sich dunkel, wenn Licht darauf fiel und bekam einen tiefvioletten Farbton. Wir machten Schattenbilder unsere Hände und von allen Gegenständen die wir für geeignet hielten. Auch die großen Negative ließen sich wunderbar dafür verwenden. Leider hielten die so hergestellten Bilder nicht lange, weil wir keine Ahnung hatten, wie wir diese Fotos fixieren konnten. Unsere Großeltern ließen uns gewähren, auch als der kostbare Fotoapparat eines Tages seinen Geist aufgab und nicht mehr zu gebrauchen war. Im Nachhinein könnte man sich zwar deshalb ein Loch in den Bauch beißen aber es lässt sich ja nun nicht mehr rückgängig machen.
Technische Dinge haben mich schon immer angelockt. Ob es ein defekter Wecker war, den es auseinander zuschrauben galt, oder ein Aufdrehauto, was mit einem Tropfen Öl wieder schneller lief. Das wichtigste Werkzeug war ein Schraubendreher, denn damit konnte man dem Innenleben, und damit dem Geheimnis, vieler Dinge näherkommen.
Über uns wohnte ein Junge, der von seinem Vater eine alte elektrische Eisenbahn übernommen hatte, die er manchmal aufbauen durfte. Da gab es Kisten voller Schienen und Weichen, kleine Häuser und vor allen Dingen Waggons und Lokomotiven. Das Glanzstück war aber ein ModellSchienenzepelin des nur kurze Zeit versuchsweise gefahrenen Schienenzeppelin. Ein stromlinienförmiger Triebwagen, der von einem Propeller über die Strecke gejagt wurde. Wenn Manfred und ich, nach oben zum Eisenbahnspielen kommen konnten, verflog die Zeit im Fluge. Stück für Stück wurden die Schienen zusammengesteckt, die Weichen eingefügt, und die ganze Wohnküche, und auch der Korridor, mit den Gleisen ausgefüllt. Da ging es unter Tischen und Stühlen hinweg bis in die Kochküche hinein und wieder zurück. Unsere Fantasie kannte keine Grenzen. Schwieriger war es, das Ganze in Gang zu bekommen. Viele der Schienen waren verbogen, angerostet, oder passten nicht ganz genau ineinander. Wie stolz waren wir dann, wenn ein Zug ohne Entgleisungen eine ganze Runde gefahren war. Immer wieder wurde improvisiert, Rost entfernt und Kontakte geschmirgelt. Wenn die Bahn einigermaßen lief, mussten wir nach unten und ins Bett.
Leider bestand meine Welt nicht nur aus Spielen. Die Schulaufgaben nahmen einen großen und unangenehmen Teil meines Lebens in Anspruch. Die Herrenkommode im Schlafzimmer war mein Leidensplatz. Nicht das die Aufgaben unlösbar waren, es waren ganz andere Dinge die Schwierigkeiten bereiteten. Zum Einen lag das Schlafzimmer zur Straße mit seinen Verlockungen, zum anderen war die Kommode ja kein Tisch, wo man seine Beine lassen konnte, und somit saß man sehr unbequem. Zum Dritten hatte ich auch Probleme mit meiner erwachenden Sexualität, die ich ja noch nicht einordnen konnte, zumal ich von meiner Umwelt keinerlei Hinweise oder gar Hilfe erwarten konnte. Mein Glied bereitete mir Lust, und was ich tat, war offensichtlich verboten, aber niemand außer mir schien diese Probleme zu haben. Mit niemand konnte ich darüber sprechen. Selbst mein drei Jahre älterer Bruder schien geschlechtslos zu sein. Ich wurde dann von einem Klassenkameraden aus dem zweiten Schuljahr, der mich, nachdem er mir sein erregtes Glied gezeigt hatte (an dem ich auch lecken durfte) aufgeklärt. Dieser Klassenkamerad erklärte mir, dass Mädchen so was überhaupt nicht haben. Mädchen haben nämlich da unten einen Schlitz, wo man seinen Pillemann reinstecken kann und dann Kinder kriegt. Ich stellte mir das alles sehr schmerzhaft vor, und konnte mir überhaupt nicht vorstellen das irgendwer solche Sauereien mitmacht. Jedenfalls entwickelten sich starke Schuldgefühle um alle Dinge die irgendwie untenherum waren.
Auch andere Dinge waren nicht für Kinder bestimmt. Da war der Selbstmord der Eheleute Dr. Blum, oder der Tod eines Kunden von unserer Drogerie im gleichen Hause. Ich sehe den Mann heute noch auf den harten, Kunstmarmorboden fallen. Er war sofort tot. Lebendig in seinem Aussehen, frisch und rosig, aber unwiderruflich tot und starr. Wir Kinder wurden sofort weggescheucht, aber was wir gesehen haben, haben wir gesehen. Irgendwann fing ich an zu begreifen, dass mein Leben begrenzt ist, und nicht ewig währen wird. Das machte mir Angst, und ich versuchte, durch einen besonders heiligen Lebenswandel, die Gnade der Unsterblichkeit zu erreichen. Das ist aber nicht ganz einfach und ich habe es bis heute nicht so ganz erreicht.
So reite sich Tag an Tag und Woche an Woche. Zu tun hatte man immer was, und Langeweile war unbekannt. Der Mangel machte erfinderisch, was kaputt ging ließ sich fast immer irgendwie reparieren oder anders weiterverwenden. War etwa Papier zu kleben reichte eine gekochte Kartoffel oder etwas mit Wasser angerührtes Mehl meistens aus um einen brauchbaren Kleber abzugeben. Wenn wir nicht mehr weiter kamen, hatten wir ja einen Vater, den wir um Rat fragen konnten.
Irgendwann wurde meinen Eltern die Wohnung am Hinsbeckerberg dochDilldorf zu eng. Im Jahr 1950 zogen wir in die gerade fertig gestellte Werkswohnung von Colsman nach Dilldorf. Unsere neue Adresse war nun Phönixhütte 62. Wir zogen in eine Baustelle. Überall waren noch gewaltige Hügel vom Erdaushub. Überall noch Matsch und Dreck, der uns Kinder aber nicht vom Spielen abhielt. Nach und nach lernten wir die neuen Nachbarn kennen, wo die Familienväter ja alle Arbeitskollegen meines Vaters waren. Mit den Kindern freundeten wir uns rasch an. Der Treffpunkt, und das Glanzstück der neuen Wohnanlage war der, mit einer umlaufenden Holzsitzbank umgebene, Sandkasten. Wenn der Sand die richtige Feuchtigkeit hatte, konnten wir großartige Bahnen für kleine Bälle bauen. Die kühnsten Konstruktionen hatten sogar Tunnel, welche allerdings nicht lange hielten und einstürzten. Die größte Umstellung war natürlich die Schule.
In der Josefsschule in Kupferdreh ging es streng und konservativ zu. Hier, in der Dilldorfschule wurde nach Montessori gelehrt. Spielerisch sollten uns alle Fächer nahe gebracht werden und wir hatten große Freiheiten. Das ist sicher ein guter Ansatz, kam aber meiner Bequemlichkeit, um nicht zu sagen meiner Faulheit sehr entgegen. Wenn es nötig war, konnte ich gute Noten schreiben, aber ich war nicht zu überzeugen, dass sich Auswendiglernen oder Schönschreiben lohnt. Noch heute ist meine Handschrift eine Katastrophe.
Bald nach der Umschulung begannen die Vorbereitungen zu ersten heiligen Kommunion. Erstkommunion Viel Zeit verbrachten wir mit dem Üben der lateinischen Gesänge die wir zum Entzücken unserer Eltern und Verwandten bei der Feier vortragen sollten. Das Gloria, das Credo und das Magnifikat wurde immer und immer wieder geprobt, bis alles klappte. Ich behaupte zwar, dass kaum eines der Kinder den Text übersetzen konnte aber es hörte sich sicher großartig an, wenn aus unseren unschuldigen Kehlen ertönte: Glotia in exelsis Deo, et in Terra Pax hominibus... . Doch vorher mussten wir alle zur Beichte antreten. Neben diversen Vergehen gegen das Freitagsgebot beschränkten sich meine Sünden auf einige Notlügen und unandächtig Beten. Auch war ich sehr glücklich dass meine Unkeuschheiten, die ich ja auch gestehen musste, von Gott durch Pastor Pfeiffer vergeben wurden.
Erstkommunion Ich war dann ziemlich verwirrt und enttäuscht, dass der Leib Christi wie Esspapier schmeckte. Darauf war ich nicht vorbereitet worden. Ansonsten war ich sehr motiviert, heiligmäßig mein weiteres Leben zu gestalten. Doch alle vier Wochen musste ich in der Beichte gestehen, dass es mir nicht gelungen war. An zwei Geschenke, die ich zur Erstkommunion bekommen habe, erinnere ich mich heute noch. Da war einmal der Wasserfarbkasten, den ich von Onkel Hans bekommen habe, und an die ersten fünf Mark in bar, die ich bis dahin je besessen habe. An den edlen Spender kann ich mich nicht erinnern, aber als ich etwa drei Tage später in der Küche, beim Knibbeln am Fensterkitt, der Scheibe einen Sprung verpasste, waren die fünf Mark auch wieder futsch.

An meine neuen Klassenkameraden gewöhnte ich mich rasch. Wir hatten alle unsren festen Platz in den Bänken. Die meiste Zeit saß ich neben Klaus Simon. Es dauerte immer lange, bis die Heftchen die meistens von den Axmanns, welche etwas hinter uns saßen, bei uns ankamen. Da gab es Akim, Tarzan, Prinz Eisenherz und andere Comichelden die in der Klassse die Runde machten und fleißig unter der Bank gelesen wurden und den oft langweiligen Schulalltag aufhellten.
Dann wurde ich Messdiener.Mit meinem Messdienerpartner Günter Dierkes bemühte ich mich die manchmal komplizierten latainischen Texte schnell zu murmeln. Vieles ist hängengeblieben und hat sich später als nüzlich erwiesen. Unsere Gruppenstunden fanden in der ersten Zeit im umgebauten Heizungskeller der Kirche statt. Ein Wimpel wurde gestickt und mit auf die Fahrt genommen. Mit einem kleinen Hauszelt wurde dann die Welt erobert. Auch an Begegnungen in der Jugendherberge erinnere ich mich gerne, wie hier 1958 mit unserer Gruppe und netten Bottroper Pfadfinderinnen. Doch das war alles schon später.
Wir wohnten direkt neben der Schule, so hatte ich es nicht nötig (zum Leidwesen meiner Mutter) vor dem Klingeln das Haus zu verlassen. Natürlich kam ich dauernd zu spät, was mir aber nicht viel ausmachte. Bei den Hausaufgaben war es genau anders. Ich drückte mich so lang es ging, und machte manchmal den Rest erst morgens vor der Schule. Oft vergaß ich auch was wir aufhatten. Glücklicherweise konnte ich dann Waltraut, weche nicht weit von uns wohnte, fragen.

Onkel Hermanns Hochzeit mit Tante Grete, es muss wohl am 17.Mai 1951 gewesen sein, war ein besonderes Fest, an dem die ganze Famile Weber zusammenkam. Auch die Cousins und Cousinen die weiter weg wohnten waren bei dieser Gelegnheit mit Ihren Eltern da. Wir sausten durch das ganze Haus, den Garten, und auch der Keller war vor uns Kindern nicht ganz sicher. Es war einfach herrlich und eine glückliche Zeit. Alle brachten selbstgebackenen Kuchen mit, der mit Genuss verzehrt wurde. Keiner wollte zurückstehen und alle halfen mit. Wir Kinder tauschten wie die Erwachsenen Neuigkeiten aus und spielten. Der Tag konne gar nicht lang genug sein.
Hochzeit Onkel Hermann Tante Grete Namensliste
Am Nachmittag wurden dann Fotos gemacht. Es dauerte endlos, bis alle die richtige Position engenommen hatten. Dann tollten wir weiter bis zum schmerzlichen Abschiednehmen.

Dann hatte uns der Schulalltag wieder. Bis zum Ende des Vierten Schuljahrs bemühte sich Fräulein Henkelmann redlich uns spielerisch etwas beizubringen. Da gab es farbige Kreise, Dreiecke usw. in verschiedenen Größen die es galt über Dingwörter, Tätigkeitswörter oder etwa Eigenschaftswörter zu legen. Ich fand das Ganze zimlich kindisch und nutzte jede Gelegenheit zu lesen. Unser Lesebuch war völlig ungeeignet, da ich ja schon das Lesebuch meines älteren Bruders, der zwei Jahre weiter war, durchgelesen hatte. Aber zum Glück gab es in der Schule einen Bücherschrank, wo wir uns in den "Freistunden" Bücher entnehmen konnten. Eines Tagesd erwischte mich die "Henkelpottsche" dass ich Bücher las, die noch gar nicht für meinen Jahrgang gedacht waren, und schimpfte mich furchtbar aus. Fortan musste ich alle Bücher die ich entnahm vorzeigen, bevor ich sie lesen durfte. Schnell waren die interessanten Bücher durchgelesen aber ich hatte ja zum Glück Manfred, der auch gern und viel las. Einen Nachteil hatte das Ganze. Manfred, der sich die Bücher auslieh, las sie auch zuerst. Erst dann, oder wenn er mal nicht da war, hatte ich Zugriff auf die Schatze der Weltliteratur. Das führte dazu, das ich von manchem Karl May nur die ersten Zweidrittel gelesen habe. Später habe ich das aber gründlich nachgeholt!


Im vierten Schuljahr bekamen wir dann einen neuen Lehrer und die Unterrichtsmethoden änderten sich apruppt. Heinrich Heckmann genannt "Frosch Heckmann" war nun für unsere Bildung zuständig. Er war ein gebildeter Mann, spielte Geige, und ließ sich leicht aus der Fassung bringen. In seinem Jähzorn zerbrach so manchen Zeigestock und wohl auch mehr als einen Geigenbogen auf dem Rücken der "Bösen Buben" wie er uns häufig nannte. Schon mein Vater der auch schon bei Ihm Unterricht hatte wusste von diesen Zornesausbrüchen zu berichten. Schon damal hatte er seinen Spitznahmen weg, da er Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt die gleiche grüne Jacke trug. Seine hervorspringenden Augen trugen ein überiges dazu bei. Die grüne Jacke eignete sich, durch den aufgenähten Gürtel, hervorragend dazu, unserm Pauker einen Zettel anzuhängen, und ihn so zu ärgern. Der Musikunterricht eignete sich auch ausgezeichnet, den armen Mann in Weissglut zu versetzen. Erkonnte es nicht lassen, das Lied einzuüben: Im Wald und auf der Heide... und fast die ganze Klasse fiel ein: da spielt der Frosch mit der Geige... . Wenn man dann zur Stafe nach vorne kommen musste, hatte man eine wunderbare Gelegenheit die dort liegende Geige zu verstimmen. Einer der wenigen braven Buben war mein Freund Helmut. er hat meines Wissens auch nie Bekantschaft mit dem Stock gemacht. Einmal, ich hatte gerade einen Zirkel in der Hand, wütete unser Lehrer durch die Klasse und schlug mit der Hand in die Zirkelspitze , die ich ihm hinhielt. Es hat zimlich geblutet, und ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Der Erdkunde und Geschichtsunterricht bot solche Gelegenheiten zu solchen Missetaten nicht. Das einzige Buch zum Thema hatte der Lehrer. In Winderseile schrieb er den Text aus dem Buch an die Tafel, wir schrieben den Text in unser Heft, und in der nächsten Stunde wurde unser Wissen oder Unwissen abgefragt. Trotzdem haben wir eine Menge gelernt! Vor allen Dingen lernten wir Rechnen, und, was mir besser liegt, Raumlehre. Wir übten den Dreisatz, berechneten Quadrate, Rhomben und Kegelabschnitte. Auch lernten wir den Lehrsatz des Pythagoras und das ziehen der Quadrat und Kubikwurzel. Das alles konnte die achtjäjrige Volksschule leisten.

Geld besaßen wir als Kinder praktisch nicht. Das erste Geld, welches ich auch wirklich ausgeben konnte, war mühsam zusammengespart. Ich kaufte mir, nach langem Abwägen, ein Modellflugzeug aus Balsaholz mit Gummimotor. Das Flugzeug war schnell zusammengebaut. Die vorgestanzten Teile mussten vorsichtig, nach der nicht ganz eindeutigen Anleitung zusammengesteckt werden. Der Rumpf musste noch etwas mit der Raspel nachgearbeitet werden und mit "UHU-HART" zusammengeklebt werden. Das Drahtgestell mit den kleinen Rädern verlieh dem Modell ein tolles aussehen. Dann brauchte nur noch das Gummiband, welches den Propeller drehen sollte mit viel Geduld gespannt werden. Dann konnte der erste Probeflug stattfinden. Gegenüber von Gökes Bude, einem Kiosk an dem wir gelegentlich etwas kauften, befand sich ein befestigter Platz der für so ein Ereignis ideal gewesen währe, wenn nicht ringsum Häuser gestanden hätten. Außerdem waren noch zwei gewaltige Birnbäume auf dem Platz die auch noch berücksichtigt werden mussten. Zu meiner Überraschung spielte das aber alles keine so große Rolle, da das Flugzeug nach kurzem Anlauf zwar abhob, aber nach ungefähr 15 Sekunden auch schon wieder zur Landung ansetzte. Es wurde noch etwas an der Steuerung und am Seitenruder gebastelt, aber Balsaholz ist nicht nur sehr leicht, sondern auch sehr zerbrechlich, und so war mein Taum vom Fliegen bald zu Ende.

Meine Aktivitäten wanden sich nun anderen Dingen zu. Da gab es zum Beispiel den Gasherd der mit einem Gummischlauch mit der Gasleitung verbunden war. Diesen Schlauch abzuziehen und dann das Gas in einer Stichflamme von ca. einem Meter in den Raum abzufackeln war ein Leichtes und damit uninteressant. Schön war es auch, die kleinen Deckel, die das Gas strahlenförmig unter den Topf leiten sollte, abzunehmen, und die Flamme nach oben in die Küche schießen zu lassen. Was konnte man damit nicht alles anstellen. Ich brauchte keinen Bunsenbrenner, ich hatte einen Gasherd.
Ich komme direkt ins Schwärmen, wenn ich mir den verlockenden Duft einer gerösteten Speckschwarte vorstelle, wenn sie im richtigen Abstand zur Gasflamme auf eine Gabel aufgespießt wurde. Grillen war noch nicht in Mode gekommen, außerdem wäre so wie so kein Geld für Grillgut da gewesen. Für mich waren es die ersten Erfahrungen auf dem Gebiet der Kochkunst. Zucker war auch ein dankbares Objekt meiner Experimente mit der Gasflamme. Leider war der Löffel, mit dem ich über der offenen Flamme den Zucker karamellisierte, gleich beim ersten mal hin, aber so hatte ich immer einen ausrangierten Löffel für meine weiteren Versuche Bonbons herzustellen. In die Schule kam eines Tages ein Glasbläser und zeigte sein altes Handwerk. Kleine Vasen, Figuren wie etwa Schwäne entstanden unter seinen kunstfertigen Händen. Aus dünnen Glasröhrchen ließen sich die schönsten Dinge formen, wenn das Material die richtige Temperatur hatte. Glasröhrchen hatten wir auch zu Hause. Damals war es üblich, Medikamente, etwa Kopfschmerztabletten, in Röhrchen zu verpacken, die für meine Zwecke wie geschaffen waren. Über der Gasflamme waren die Medikamentenröhrchen schnell zur Weißglut gebracht, und mit Geschick verformt. Es kam zwar nichts gescheites heraus, aber es machte Spaß. Auch die Glasröhren, in denen Liebesperlen verkauft wurden, blies ich zu absonderlichen Formen auf. Die konzentrierte Flamme eignete sich aber auch um Nägel zum Glühen zu bringen um dann damit selbstgeschnitzte Holzmesser, die für unsere Indianerspiele unentbehrlich waren, kunstvoll zu verzieren.
Natürlich habe ich mich manchmal gehörig verbrannt, aber ich bin eigentlich ein vorsichtiger, um nicht zu sagen ängstlicher Mensch, und es ist nie etwas ernstliches passiert.
An diese Stelle gehören auch die Knallgasdemonstrationen. Man nehme einen Topf, stülpe ihn über das ausströmende Gas, und zünde das Ganze mit Hilfe eines möglichst langen Holzspans. Ich kann bestätigen, das Gas-Luft-Gemisch dass sich dann entzündet, ist hochexplosiv! Der Topf fliegt etwa 2 Meter hoch und man kann von Glück sagen, wenn die Decke nichts abbekommt. Alles muss selbstverständlich wiederholt werden, um die Aussagen der Wissenschaft über Knallgas zu überprüfen! .Die ganzen Spielereien gingen natürlich nur, weil meine Eltern beide arbeiteten, um unsere Familie über die Runden zu bringen. Wenn Vater Morgenschicht hatte, er musste dann um 6°° Uhr im Betrieb sein, hatte Mutter Spätschicht, die um 14°° begann. Dazwischen war immer Zeit, in der Manfred und ich unbeaufsichtigt waren und, die für meine illegalen Aktivitäten unerlässlich waren. Alles konnte natürlich nicht im Verborgenen geschehen, aber meine Mutter, die im Jahre 2003 am 30.Januar im Alter von 87 Jahren starb, hat auch nie alles gewusst!
Der Sandkasten blieb zwar noch lange Zeit das Komunikationszentrum unserer Clique, aber der Sand wurde nach und nach den jüngeren, nachwachsenden Geschwistern überlassen und wir widmeten uns ernsteren Dingen.
Unser Betätigungsdrang war selbstverständlich von der Jahreszeit abhängig. Im Winter, der ja immer unterschiedlich ausfiel, konnten wir mal tagelang unter idealen Voraussetzungen direkt vor der Haustüre Schlittenfahren, und in einem anderen Jahr war der Schnee so pappig und so viel, dass wir große Schneemänner, und dann noch größere Kugeln zu riesigen Schneehaufen aufstapeln konnten, die wir dann aushöhlten und zu Iglus ausbauten, in denen wir dann spielten. Bis lange ins Frühjahr hinein, schmolzen diese gewaltigen Schneemassen, auch wenn sie endgültig eingestürzt waren nicht, und hinterließen auf der Wiese hässliche Flecken. Meisten überwiegten die Schlittenjahre. Von der Treppe, welche zur Einbahnstraße hinaufführte, bis zu den Bahngleisen war genügen Steigung um unsere Schlitten den nötigen Schwung zu verleihen In den ersten Tagen musste man die im Laufe der Zeit angerosteten Kufen noch mit etwas Schmirgel nachhelfen doch nach einem Abend waren die Bedingungen perfekt. Es war ja oft so, das der Schnee tagsüber etwas antaute, und erst nach Sonnenuntergang die Bahn vereiste, und dann richtig glatt wurde. Die Gaslaternen gaben uns in der Dunkelheit Licht, waren aber auch ein gefürchtetes Hindernis, da die Schlitten bei vereister Bahn nicht gut zu lenken waren und mancher blaue Fleck eingehandelt wurde wenn man aneckte. Selten versuchten wir in einem anderem Revier unseren Schlitten auszuprobieren. Im Asbachtal gab es zum Beispiel eine Strecke die viel mehr Gefälle hatte und auch länger war, als unsere Hausstrecke. Hier war es auch, dass ich zum ersten mal in meinem Leben auf Skiern einen Hang heruntergerutscht bin. Es war auch das letzte mal! Vor der Haustüre wurden immer abenteuerliche Schlittenanspanner ausprobiert, einige kamen sogar über das natürliche Hindernis der Bahngleise hinaus, und schafften es bis kurz vor den Deilbach zu kommen. Doch im nächsten Jahr war der Schnee nicht so ergiebig, und Anderes rückte in den Vordergrund.
Eines Tages waren wir bei einem Arbeitskollegen meines Vaters, Willi Fischer zum Kaffee eingeladen. Dieser Besuch lenkte meine Aufmerksamkeit auf etwas völlig Neues. Willi Fischer war begeisterter Aquarianer, und hatte ein für heutige Begriffe kleines Gesellschaftsbecken mit bunten Fischen, die ich noch nie gesehen hatte. Das gab es Schwertträger, Guppys, Black Mollys und als Besonderheit einen "Kap Lopez" der in unglaublichen Farben schillerte.
Schnell war ein großes Bonbonglas besorgt, welches als Aquarium dienen konnte. Sand und einige Steine gaben den Bodengrund ab, einige Pflanzen und ca. 30 junge Guppys bekam ich von Willi Fischer, der mir auch noch eine Menge guter Ratschläge mit auf den Weg gab. Das Wasser musste geheizt werden, schließlich waren es ja Warmwasserfische, die es zu betreuen galt. Mit einer 40 Watt Glühbirne, die ein wenig in das Wasser eintauchte, wurde das Problem gelöst. Getrocknete Wasserflöhe war die erste Nahrung unserer neuen Hausgenossen. Stundenlang hockte ich vor dem Glas und bestaunte die winzigen, noch halbdurchsichtigen Fischchen. Mit einem Thermometer überprüfte ich die Temperatur, und schalte nach Bedarf die Glühbirne ein oder aus. Nachts sank die Temperatur natürlich ab, aber mit meinen primitiven Hilfsmitteln ging es ja nicht anders. LeiderGuppys hielt die Freude an den Fischen nicht lange an. Nach einigen Tagen kam die Sonne, die lange hinter den Wolken versteckt war, wieder zum Vorschein und heizte mein Behelfsaquarium gewaltig auf. Als ich aus der Schule kam, hatte ich Fischsuppe im Becken und ich war um eine Erfahrung reicher. Mit meinen nächsten Fischen hatte ich mehr Erfolg als Aquarianer.
Ein mal im Jahr war in Kupferdreh auf dem Markt, später auch in der Kastanienalle und auf einem angrenzenden Platz die große Kirmes. Da gab es dann eine Raupe, ein Kettenkarussell, Losbuden und einen Autoselbstfahrer. Kinderkarussells mit auf und niederschaukelnden Karussellpferden und, für die schwindelfreien Kinder, eine sogenannte Kaffeemühle. Manchmal wurde auch ein Riesenrad aufgebaut und man konnte auf den Markt und die Kirmesbesucher herunterschauen und spucken. Die großen Atraktionen von Heute gab es noch nicht. Für den Spaß reichte uns ein Besuch im Spiegelkabinett, eine Fahrt auf der Raupe oder dem Kettenkarussell. Wenn dann immer noch von den 2 oder 3 DM Kirmesgeld überig war, versuchte ich mein Glück an einer der keinen Buden wo man für 10 Pfennig etwas gewinnen konnte. Dann gab es noch die Schiffschaukel mit Überschlag. Das war aber nie mein Ding. Mir wurde schon schlecht, wenn ich sah wie einer der Mutigen kopfüber in der Schaukel hing. Die Eis oder Bratwurstbuden erregten zwar mein Interesse, aber das war meisten ausserhalb meiner finanziellen Möglichkeiten.


Die Sonne setzte sich durch und es wurde warm. Es wurde wieder mehr im Freien gespielt. Die Wälder entlang der Ruhr und das Feldsbüschken hinter der Kaserne wurden unser bevorzugtes Revier. Mit Pfeil und Bogen ausgerüstet begann eine lange Zeit der Indianerspiele. Da gab es tapfere Krieger, Ober und Unterhäuptlinge und natürlich auch einen weisen Medizinmann, den mein Bruder Manfred mit dem Indianernamen Blaue Schlange verkörperte. Der Name stammt von einem blauen Wollfaden, der mit Siegellack befestigt, die Wichtigkeit unserer Botschaften, die wir im Wald an die Bäume hefteten, unterstrich. Viel Zeit wurde aufgewandt um einen ordentlichen Bogen zu bauen. Schon die Wahl des richtigen Holzes ist eine Kunst. Auch die dazugehörigen Pfeile mussten besonders gerade und ausgewogen sein, um zielsicher zu fliegen. Die wirklich gefährlichen Waffen waren Bögen, welche aus gebündelten und mit Isolierband umwickelten Stahlstangen bestanden welche wir aus abgelegten Schirmen besorgten. Auch die mit viel Mühe angeschliffenen Pfeile waren Schirmstangen, die mühelos ein dünnes Brett durchdrangen. Wir machten uns einen Spaß daraus sie über unser Haus zu schießen. Glücklicherweise ist nie etwas passiert! Die Adlerfedern für den Kopfschmuck stammten meist von Elstern oder auch von Hühnern, aber mit etwas Fantasie ist viel zu machen. So ausgerüstet gingen wir auf Kundschaft oder auf die Jagt. Einmal schickten wir mit einem Speerwurf eine Taube in die ewigen Jagdgründe. Mit Kaninchen, die wir gelegendlich aufstöberten hatten wir weniger Glück.
Der Deilbach war da etwas ergiebiger.Wir hatten ja oft genug den Anglern zugesehen die dort mit Erfolg angelten. Unter der Brücke gab es einen Platz ,den man nicht so gut einsehen konnte wo wir heimlich fischten. Fische gab es genug die darauf warteten an Land gezogen zu werden. Die Angeln waren selbstverständlich selbst gebaut. Ein langer Stock wurde mit Krampen bestückt, eine Nähgarnrolle diente zum Aufwickeln der Angelschnur, die aus Perlonfäden von Colsman bestand. Die meiste Arbeit war das Anknoten der Angelhaken, welche aus Stecknadeln, die mit einer kleinen Zange gebogen, und mit einem Widerhaken versehen wurden bestanden. Dann brauchte man nur noch einen geeigneten Köder und etwas Geduld und schon zappelte ein Fisch an der Angel. Gegessen haben wir keinen, aber ich habe die armen Tiere aufgeschnitten und gewissenhaft untersucht. Ich fand das nicht unbedingt appetitlich, aber doch interessant. Als wir später herausfanden, das ein richtiger Angelhaken nur Pfennige kostet machte das Fischfangen nicht mehr so viel Spaß und es gab ja auch noch anderes zu tun.

Fortsetzung

Herbert Sippel