Rückblicke IV

An Opa Sippel habe ich kaum Erinnerungen,ich war wohl noch zu klein als er starb. Oma Sippel kannte ich praktisch nur als strenge Witwe. Ich fühlte mich immer mehr zu den Eltern meiner Mutter, Oma und Opa Weber hingezogen.
An Sonn- oder Feiertagen machte man Besuche. Oma Sippel wohnte nicht weit. Nach fünfzehn Minuten Fußweg war man auf Nr.1, so war die Adresse für eine Häusergruppe am Primberg in Dilldorf. Es waren einige mehrstöckige Bauten und einige 1 ½ stockige, langgezogene Gebäude. Nummer 1Im ersten Haus links wohnte neben Oma Sippel in den ersten Jahren auch noch Tante Elli mit Onkel Josef Weber, Christa und Franz-Josef. Außerdem Tante Maria mit Onkel Heinz Wewers. Es war alles sehr eng. Die Wände waren mit Kreide gestrichen und wenn man nicht aufpasste, hatte man die Farbe an der Kleidung. Der Messingwasserhahn über einem emailliertem Blechausguss war der einzige Komfort. Um zur Toilette zu gelangen musste man das Haus verlassen, das Haus halb umrunden, eine Treppe Oma und Opa Sippelhinuntergehen und dann auf einem der Plumpsklos Platz zunehmen. Man war gut beraten, etwas Zeitungspapier zum abputzen mitzunehmen denn Toilettenpapier war teuer. Im Winter fror man, und im Sommer war der Gestank bestialisch. Wenn ich auf der Toilette war, machte ich wenn möglich, einen Besuch bei den Kaninchen, die auch hier unten ihre enge Heimstatt hatten. Ich schob dann ein Kohlblatt oder auch Löwenzahnblätter durch die engen Löcher des feinen Maschendrahts und beobachtete sie beim Fressen.
Mein Vater konnte schlachten und so fiel gelegentlich ein Kaninchen für uns ab. Auch die weitere Zubereitung war meinem Vater überlassen da meine Mutter nicht so gerne etwas isst, was nicht vom Schwein oder Rind stammt. Vater briet also das Kaninchen nach altem Rezept, der Kopf jedoch musste für eine Suppe herhalten. Die heftigen Proteste der übrigen Familie störten ihn wenig, wenn er das Hirn aus dem Auge des Kaninchenkopfes lutschte. Ich fand das auch ekelig, aber der übrige Braten war immer köstlich.

Marlene und ihr etwas älterer Bruder Hans Günter waren die Kinder meines Onkels Hans, ein Bruder meines Vaters, der mit Tante Maria, einer geborenen Döveling verheiratet war. Sie wohnten auf der Marienbergstrasse in einem hübschen Siedlungshaus. Die alten Dövelings wohnten in einer eigenen Wohnung mit im Hause.Onkel Hans Onkel Hans war "Taubenvater" und gewann mit seinen Brieftauben viele Preise. Auch Hans Günter hatte eigene Tauben, die er uns stolz zeigte. Tauben die keine Preise holten, kamen in die Suppe, was öfter vorkam. Mit Hans Günter und Manfred habe ich mal einen Flächenbrand gelegt. Unterhalb vom Düschenhofer Wald gab es auf einer Wiese trockenes Röhricht, was es uns angetan hatte. Es war fast mannshoch, und kreuz und quer gingen Trampelpfade hindurch. In der Mitte gab es eine plattgetretene Stelle die sich hervorragend zum Feuermachen eignete. Es brannte besser als Wir dachten! . Als unsere Löschversuche misslangen, haben wir uns verdünnisiert, und waren erstaunt, wie schnell doch die Feuerwehr sein kann. Das hätte teuer werden können!

Wenn wir in Heisingen Onkel Willi Sippel, Tante Mathilde, und meine Cousinen Marianne und Hildegard besuchten, mussten wir auf die andere Seite der Ruhr, die zum Baldeneysee aufgestaut ist. Da die alte Eisenbahnbrücke nicht durch Fußgänger benutzt werden konnte, nahmen wir gerne die Fähre, die nach Lanfermann hin-überführte, um nicht den großen Umweg über die Kampmannsbrücke machen zu müssen.

Es ist warm. Am Himmel ziehen dunkle Wolken auf und wir hofften, noch vor dem drohen-den Unwetter, über den See zu kommen. Auf der Mitte des Sees ist das Wetter mit einem mal über uns. Sturm ist aufgekommen, und der Himmel ist nachtschwarz geworden. Das Drahtseil, mit dem das Boot auf die andere Seite gezogen wird, spannt sich so, das es zu zerreißen droht. Keinen Zentimeter kommen wir vorwärts, weil der Sturm, der genau flussabwärts bläst, das ganze Boot wie ein zum Zerreißen gespanntes Segel schräggestellt hat. Der Fährmann, mit seinem haarlosem Kopf, seinen tiefliegenden dunklen Augen, und seiner Narbe, die er anstatt, seiner im Krieg verlorenen Nase trägt, ist schneeweiß geworden, und sieht wie der leibhaftige Tod aus. Die Schleusen des Himmels öffnen sich und Regen prasselt auf uns herab. Da beginnt einer der Fährgäste laut zu beten, und alle stimmen in das Vaterunser ein. Es dauert noch eine geraume Zeit, bis der Wind etwas nachlässt, und die Fähre mit Hilfe einiger Fahrgäste Zentimeter für Zentimeter zum rettenden Ufer gezogen werden kann. Dann ist der Spuk vorbei und der Sturm legt sich. Wir sind zwar nass bis auf die Haut aber heilfroh, noch einmal davongekommen zu sein.

Bei Onkel Willi, der in Velbert in einer Schleiferei arbeitete, und gut verdiente, gab es im-mer eine Leckerei. Mal gab es ein Eis am Stiel, mal gingen wir an den Stausee in ein Lokal, und tranken eine Cola oder eine Sinalco. Auch wurden wir zur Trinkhalle geschickt um für unseren Vater und Onkel Willi Bier zu kaufen, was bei uns selten vorkam. Onkel Willi trank gerne und regelmassig. Dann wurde lautstark über Gott und die Welt diskutiert, oder das es in diesem Jahrhundert nicht gelingen wird, zum Mond zu fliegen. Eine Wette muss auch noch eingelöst werden! Onkel Willi konnte sich nicht vorstellen, dass man eine halbe Fleischwurst auf einen Sitz aufessen kann
Auch in Heisingen gab es das Plumpsklo hinter dem Haus, und Onkel Willi bekam bei einer Gelegenheit einen Toiletteneimer von uns ge-schenkt. Meine Mutter dichtete dazu:

Das Bier das will hinunter
Das Bier das will hinaus
Dann nehme diesen Eimer
Dann brauchst du nicht ums Haus!

Tante Mathilde verwunderte uns, als wir einmal unangemeldet Tante Mathildeauftauchten damit, dass sie ihren Kohleofen mit Wäscheklammern als Anmachholz in Gang brachte. Als sie unsere erstaunten Blicke sah, erklärte sie uns das immer so zu machen, weil Klammern so schön trocken sind, und gut brennen.
Heisingen war auch das Ziel vieler Besuche bei der Schwester meiner Mutter, meiner Tante Else. Tante Else Pelzer war Kriegerwitwe, und lebte mit meiner ältesten Cousine Ursula und meinen Cousins Karl-Heinz und Rudolf in einem kleinen Fachwerkhaus. Das Haus an der Straße "Staelsfeld" lag innerhalb eines großen Gartens. Wie es damals üblich war, bestand der größte Teil des Gartens aus Beeten mit Kartoffeln, Rotkohl, Weißkohl, Strauch- und Stangenbohnen, Kohlrabi, Blumenkohl und Salat. An den Rändern standen Sträucher mit köstlichen Beeren Es gab leuchtend rote und tiefschwarze Johannisbeeren mit einem herrlichen Aroma, verschiedene Sorten Stachelbeeren Tante Else vor dem Haus in Heisingen und ein großes Beet mit köstlichen Erdbeeren. Hinter dem Haus befand sich ein Schuppen und der Hühnerstall.
Auch das Plumpsklo befand sich hinter dem Haus. Eine Zeit war es mit einer Mutprobe verbunden, dort hin zu kommen, da der hintere Teil des Gartens von einem angriffslustigen Zwerghahn verteidigt wurde, der jedem ins Gesicht flog, der seinen Hennen zu nahe kam. Tante Else war eine der beliebten Stationen, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs war. Es gab immer was zu erzählen, und eine Tasse Muckefuck gab es auch immer.
In Heisingen war es auch, wo ich mit meinem Cousin Rudolf meine ersten Erfahrungen mit dem Rauchen einer Nikolauspfeife machte. Ich glaube, es war Tee, der in Ermangelung von Tabak unsere Pfeife füllte, aber geschmeckt hat es nicht.

Tante Änne und Onkel Paul, mit Annemarie und Walburga, wohnten in Velbert in einem sehr alten Haus, Haus am Bleiberg welches wohl aus Denkmalsschutzgründen immer noch als menschliche Behausung diente zwei alte, niedrig gehaltene Kastanienbäume stehen heute noch an der Vorderseite des alten Gebäudes. In der Kurve rechts vom Haus wurden ein paar Hühner gehalten. Irgendwie ist es mir eines Tages gelungen, eines der Hühner zu dressieren auf meine Hand zu fliegen und dort sitzen zu bleiben. Hinterher hieß es, ich hätte alle Hühner hypnotisiert so dass sie tagelang keine Eier mehr gelegt hätten.
Wenn man das Haus betrat, fiel jedem, außer den Bewohnern, ein eigentümlicher Geruch auf der durch das ganze Haus zog. Es lag nicht nur an der Gemeinschaftstoilette, die gleich zur Linken lag. Unten wohnten Schneider, oben Hampf, meine Verwandten. Zur Wohnung von Hampf`s gehörten zwei Räume. Geradeaus die Treppe hinauf gelangte man über ein Podest direkt in das Schlaf-zimmer. Vom Podest aus links war der zweite Raum.Familie HampfHier war in der rechten, hinteren Ecke ein Ausguss mit einem Wasserhahn darüber. Ein Herd, Schränke ein Esstisch eine Couch und ein paar Stühle vervollständigten die Einrichtung des Koch-Ess-Wohnzimmers, in dem es ganz gemütlich war. Die Gemütlichkeit wurde zwar nicht durch die tolle Einrichtung ausgelöst, sondern durch die herzliche Gastfreundschaft von Tante Änne. Es gab immer etwas Gutes zu essen, und auch Onkel Paul bekam jeden Mittag seinen Henkelmann nach Glittenberg gebracht, wo er arbeitete. Um nach Velbert nach Tante Änne und Onkel Paul zu gelangen, fuhren wir mit dem Bus bis "Stanlei". Dann hatten wir noch einen Fußmarsch von etwa 25 min vor uns, bis wir am Bleiberg ankamen. Später fuhr ich häufig mit dem Fahrrad nach Velbert. Es war immer eine Anstrengung, den Höhenunterschied zu überwinden, aber dafür war der Rückweg leichter.

Ein besonderes Erlebnis war es nach Sonsbeck, nach Onkel Willi und Tante Anni zu fahren. Nachdem sie in der ersten Zeit nach dem Krieg in Velbert Unterschlupf gefunden hatten, tat sich Onkel Willi mit dem Holländer van Hütt zusammen. Die Beiden gründeten zu gleichen Teilen eine Firma, wobei Onkel Willi sein handwerkliches Können als Steinmetzmeister einbrachte, und sein Partner ein Grundstück in Sonsbeck, und seine Arbeitskraft. Gemeinsam leisteten die Beiden erstaunliches. Nach und nach blühte der Betrieb auf. Alles musste hinter den betrieblichen Interessen zurückstehen. Gewohnt wurde über der Werkstatt in der Dachschräge. Über eine steile, an eine Leiter erinnernde Stiege gelangte man nach oben. Das hinderte Tante Anni aber nicht, uns über Nacht, oder auch etwas länger, als Gäste bei sich zu haben. Das war für uns dann der Urlaub. Etwas anderes kannten wir nicht.
Erst viel später, als ich so 15 oder 16 Jahre alt wurde, bin ich dann mit der Messdienergruppe zum ersten mal, für ein paar Tage mit Zelt und Fahrrad unterwegs gewesen.

Um nach Onkel Heinz Sippel zu gelangen, der mit Tante Gerdi in Oberntudorf in der Nähe von Paderborn wohnte, mussten wir mit der Bahn fahren.Tante Gerdi In Salzkotten war für uns Endstation, und es ging mit dem Bus weiter. Auf dem Hof von Tante Gerdis Eltern stand ein mächtige Walnussbaum der mich damals sehr beeindruckte weil ich noch nie einen Nussbaum gesehen hatte. Ich erinnere mich an einen Besuch in Oberbentudorf besonderer Art. Es war in der Nachkriegszeit und wir hatten alle Hunger. Unsere ganze Familie blieb über Nacht in Oberntudorf. Es war dunkel geworden. Mit einem mal wurden alle aktiv. Mit Körben und Eimern versehen ging es auf die Felder der Bauern um dort Kartoffeln zu ernten. Auch Rüben wurden aus der Erde gezogen und in einem Beutel gepackt. Wie groß muss die Not meiner Eltern gewesen sein? Niemals sonst hätten sie sich am Eigentum anderer vergriffen.

Der älteste Bruder meines Vaters Onkel Franz wohnte mit Tante Franzisksa und den Kindern Egbert, Elsbeth und Margret in einem kleinen Fachwerkhaus aud der Dilldorfer Straße. Ingrid, die Jüngste von ihnen wurde erst nach dem Unfalltod von Onkel Franz geboren. Auch hier wurden regelmäßig vorbeigeschaut.

Meine Oma Weber stammte aus Überruhr.Lüttenberg Sie hatte dort noch Geschwister und Verwandte, die ja Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen meiner Mutter waren. Auch diese wurden, als ich noch kleiner war, regelmäßig besucht. Sie hießen meist Lüttenberg oder Minzenbach uns für uns Kinder war es ein meist langweiliges Vergnügen dem Familientratsch zuzuhören. Einmal durften wir einen kleinen fetten Hund ausführen. Stolz erzählten wir dann, wie toll und mit welcher Kraft der arme Hund uns an der Leine durch sein Revier zog.

Irgendwann am Anfang des Jahres 1953, wurden mir und Manfred mitgeteilt, das sich unsere Familie vergrößern würde, und wir uns weiter einschränken müssten. Mutters Schwangersaft war relativ einfach, und wurde von uns Kindern kaum wahrgenommen. Am 14.03.53 war es dann soweit. Die Hebamme kam, wir Kinder wurden ins Wohnzimmer, was ja seit langem unsrer Schlafzimmer war, geschickt, und wahren dann sehr erleichtert, als wir dann ein kräftiges Schreien hörten. Am Morgen durften wir dann unseren neuen Bruder Bernd, anschauen und in die Arme nehmen. Bernd hatte zu unserer Verwunderung fast schwarze Haare, die aber mit der Zeit immer mehr erblondeten. Alles drehte sich fortan um Bernd. Einwegwindeln gab es ja noch nicht und so wurde ständig gewaschen. Frau Hanisch, unsere Nachbarin, half in den ersten Wochen, wo Mutter noch nicht wieder auf den Beinen war, kräftig im Haushalt mit, aber nach und nach wurden etliche Aufgaben auf Manfred und mich übertragen. Geschirrabtrocknen war ja schon seit langen Jahren unsere tägliche Pflicht, auch Schuhputzen und das Bohnern des Stragulateppichs am Freitag gehörten zu unseren Standartaufgaben. Neu war das gelegentliche Saubermachen und Wickeln unseres Bruders, was uns neben der, nicht immer angenehmen Arbeit, aber auch mit gewissem Stolz erfüllte.
Besonders stolz waren wir natürlich, wenn Bernd von mir, oder Manfred im Kinderwagen ausgeführt wurde. Manfred Herbert BerndAuch Annemarie, unsere Cousine ließ keine Gelegenheit aus, mit Manfred und Bernd loszuziehen. Bernd bekam immer alles, was bei den beschränkten Mitteln möglich war. Mutter hörte auf zu arbeiten, um sich ganz ihrem Jüngsten widmen zu können. Manfred und ich halfen nach Kräften mit, dass aus dem Jungen "mal was wird".

Freizeit hatten wir trotzdem genug, wir hatten ja noch keinen Fernsehapparat. Manchmal gingen wir nun sogar ins Schwimmbad. Das Schwimmbad war der umgebaute Feuerlöschteich der Firma "Gewerkschaft Christine" am Ortsausgang von Kupferdreh. Das gekachelte Becken, welches durch eine Kette in Schwimmer und Nichtschwimmer unterteilt war, hatte zwei Eigenschaften die sicherlich daran beteiligt sind, das ich heute noch kein guter Schwimmer bin. Es war erstens ständig völlig überfüllt und zweitens der Chlorgehalt war sicher auch nicht zulässig. Es hat noch Jahrzehnte gedauert, ich war längst weggezogen, bis Kupferdreh ein Hallenbad bekommen hat.

Der ganze Stolz meines Vaters war unser Garten, den er nicht weit von seinem Elternhaus am Priemberg, für eine geringe Summe gepachtet hatte. Da gab es Kartoffeln und Salat, Rotkohl, Weißkohl, Wirsing, aber auch Melde und Spinat und vor allen Dingen Bohnen. Vater im GartenAn langen Stangen reckten sich die Stangenbohnen zum Licht und in dichten Rehen die Buschbohnen unterschiedlicher Arten. Gelbe und grüne, Speckbohnen und Prinzessbohnen Bohnen mit weißen, aber auch mit braunen oder bunten Früchten wie sie heute selten geworden sind. Neben den Bohnen gab es natürlich auch Erbsen, und nicht zu vergessen, Stachelbeeren, nebst roten und schwarzen Johannisbeeren, die sich vorzüglich zum "Beerenaufsetzen" eigneten.

Ich erinnere mich an ein Jahr, wo es so viel Beeren gab, das es sich lohnte daraus Wein herzustellen. Die Beeren wurden gestampft und dann durch Leinentücher gepresst. Der aufgefangene Saft wurde in riesige Ballonflaschen gefüllt, mit Zucker angereichert und mit Tokajer Hefe, die man in der Drogerie bekommen konnte, versetzt. Sofort begann der Saft wild zu gären und zu schäumen. Nach einigen Tagen kamen Gummistopfen auf die Flaschen durch die eine Vorrichtung gesteckt wurde, die verhinderte, das Sauerstoff eindringen konnte, gleichzeitig aber die bei der Vergärung entstehende Kohlensäure hinauslief. Ein ständiges leichtes Glucken, was mit den Wochen immer mehr nachließ, zeigte an, wie weit der Beerewein vergor, und der Zucker in Alkohol umgewandelt wurde. Bei ca. 15,5 bis 16% gab selbst die robuste Tokaierhefe auf, und das Glucken der Kohlensäure lies nach. Dann, nach einer ersten Probe, wurde der Wein in Flaschen abgefüllt und kühl gelegt. Leider war ich noch zu jung um an den folgenden Bacchanalen teilzunehmen, aber ich habe natürlich genascht, und kann bestätigen: der Wein war sehr gut!

Ein anderes Kapitel waren die Bohnen. Unmengen wurden davon eingeweckt. Zu allem Überfluss wurden noch vom Wochenmarkt welche dazugekauft. Dann stand in der Mitte der Küche eine verzinkte Badewanne die mit Dickebohnen bis an den Rand gefüllt war. Alle beteiligten sich beim döppen der Bohnen. Nach einigen Stunden war die Wanne leer und es konnte eingekocht werden.. Die sorgfältig gespülten Gläser wurden gefüllt und mit Gummiringen und Glasdeckeln versehen. Der Deckel wurde zunächst mit einer Klammer versehen, bevor die Gläser auf einem Einsatz in den Weckkessel kamen. In den Weckkessel kam außerdem noch etwas Wasser, und von oben, durch das Loch das Einkochthermometer. Dann kam das ganze zum Einkochen auf den Ofen.. Busch oder Stangenbohnen machten ähnlich viel Mühe. Hier mussten die Stängelansätze abgeschnitten, und die Fäden entfernt werden. Wir hatten jedenfalls zu dieser Zeit immer etwas Essbares im Haus wenn es auch immer das gleiche war, Bohnen, Kohl, Sauerkraut, Bratkartoffeln, (manchmal mit Spiegelei) und Reibekuchen. Auf die Brote kamen Marmelade, Schmalz, aber mit dem steigenden Wohlstand auch immer öfter Wurst und Käse.

Nach wie vor ließen wir bei Küpper-Fahrenberg anschreiben. Am Monatsende, wenn Vater mit der Lohntüte nach Hause kam wurde abgerechnet. Vorher wurde noch schnell ordentlich eingekauft. Dann gab es etwa eine ganze Fleischwurst und eine Lage westfälischen Knochenschinken. Dann war wieder Ebbe im Vorratsschrank; einen Kühlschrank hatten wir noch nicht

Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zur Kur nach Borkum gekommen bin. Es kann so 1954 gewesen sein. Ich war wohl immer ein bisschen blass und schmal, und so kam es, das ich einen Platz im Kurhaus der Stadt Essen auf Borkum bekam. Bis zum Bahnhof Altenessen brachten mich meine Eltern. Dort waren schon viele Kinder die auch nach Haus Ruhreck, so hieß das Erholungsheim, geschickt wurden. An die Zugfahrt erinnere ich mich kaum. Die Fahrt von Emden nach Borkum mit dem kleinen Bäderschiffchen ist mir ein unvergessenes Erlebnis geblieben. In der vorhergegangenen Nacht hatte es einen Sturm gegeben und die Wellen gingen noch sehr hoch. Die Wellentäler wahren so gewaltig, dass das ganze Schiff darin verschwand. War das Schiff auf einem Wellenkamm, konnte man weit in die tosende See schauen, war das Schiffchen unten, hatte man vor, und hinter sich eine graugrüne Wasserwand von ca. 5 Meter Höhe. Das Vorschiff war ständig unter Wasser, auch wir paar tapferen Kinder, die ganz oben neben dem Steuerhaus standen, und sich krampfhaft festhielten, wurden wir immer wieder nass. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, in welch gefährlichen Situation wir uns da befanden, es war ja meine aller erste Begegnung mit dem Meer. die mich allerdings ungeheuer beeindruckt hat. Als ich einmal zum Pinkeln runtermusste, sah ich das ganze Elend. Fast alle Passagiere waren seekrank. Die Kinder waren blass und verstört, einige klammerten sich aneinander und andere hatten sogar erbrochen. Den Betreuern, die ja auf uns aufpassen sollten, ging es nicht anders.
Die Seeluft war gesund. Die unendlichen Wanderungen durch die Strandwälder taten mir gut. Am Spülsaum der Nordsee suchten, und fanden wir Austernschalen und Muscheln, und, mit etwas Glück, auch mal eine Meeresschnecke, die wir stolz nach Hause brachten. Unsere Tante Susanne war Klasse. Einmal führte sie uns während einer Springflut auf die obere Promenadenstrasse und zeigte uns das Naturschauspiel. Wir Kinder waren begeistert, Tante Susanne brachte es einen gewaltigen Rüffel ein.
Mittags war Bettruhe angesagt In einer luftigen, lichtdurchfluteten Halle waren Liegen aufgestellt welche mit grauen, groben Decken ausgestattet waren. Wenn man einschlief hatte man Glück, ansonsten war es ziemlich langweilig dazuliegen und Ruhe zu halten. Einer der HöhepunkteBorkum der Kur war sicherlich der Auftritt eines Zauberkünstlers. Im Speisesaal verblüffte er uns mit seinen Tricks und Taschenspielereien, ließ Flaschen verschwinden und Blumen auftauchen und holte sogar ein Kaninchen aus seinem Zylinder. Gegen Ende des Borkumaufenthalts durften wir dann endlich unser Taschengeld (mehr als 5 DM durfte keiner mitnehmen) ausgeben. Tante Susanne führte uns in einen Andenkenladen und beriet uns. Ich entschied mich für einen getrockneten Seestern der noch lange auf unserer Fensterbank herumlag und müffelte.
Bei der Rückfahrt war die See glatt wie auf dem Baldeneysee. An die anschließende Bahnfahrt erinnere ich mich nicht. Bei der Ankunft in Altenessen muss ich meine Eltern sehr enttäuscht haben als ich erklärte ich wäre noch gerne eine Woche geblieben.

Dann ging der Schulalltag weiter. Die paar Wochen, welche die Kur länger dauerte als die Herbstferien, waren schnell aufgeholt. Die Schule empfand ich als langweilig und die Haus- aufgaben waren ausgesprochen lästig. Ich machte zwar das Nötigste und kam auch gut mit, aber irgendeinen Ehrgeiz gute Noten zu schreiben hatte ich nie.

Abwechselung in unseren Alltag brachte uns die alljährliche Kirmes auf dem Markt und den angrenzenden Straßen. Losbuden, Kinderkarrussels, Wurstbuden, eine „Raupe“ und ein “Autoselbstfahrer“ waren eigentlich immer da. Auch ein Kettenkarussel und eine Schiffschaukel gehörten zum Standard. Seltener war ein Riesenrad oder eine Boxbude zum Vergnügen der Kirmesbesucher aufgebaut. Unser Kirmesgeld war immer knapp bemessen und wir mussten schon sehr sorgsam damit haushalten. Da es sich herausstellte das auf den meisten Losen der Aufdruck stand „leider verloren“, und wenn man tatsächlich etwas gewann, einen klexenden Kugelschreiber oder einen ähnlich tollen Gewinnn hatte, machte ich rasch einen Bogen um die Losbuden und versuchte mein Glück woanders.

Fortsetzung

Herbert Sippel